von Nicci French
Rezensionsexemplar
„Es ist nun dreißig Jahre her, dass in einem Dorf in East Anglia, wo das Land von Wattflächen und Sümpfen verschluckt wird, eine Frau verschwand.“ (Buchbeginn)
Charlotte Salter, kurz Charlie. Sie ist Mutter und Ehefrau. Nachbarin und Kollegin. Freundin und Vertraute. Sie ist verschwunden.
Wir schreiben das Jahr 1990. Alec, der Ehemann von Charlie, feiert seinen Geburtstag. Eine große Feier steht auf dem Tagesprogramm. Die Stimmung ist ausgelassen. Kurz bevor die Feier eröffnet wird, fällt den Kindern auf, dass ihre Mutter fehlt. Es wird auf eine Überraschung getippt, die Sorgen vorerst beiseite geschoben. Die Feier beginnt – ohne Charlie.
Vor allem Etty, die jüngste der Familie, macht sich Gedanken. Das alles sieht ihrer Mutter nicht ähnlich. Sie sollte recht behalten.
Die örtliche Polizei wird eingeschaltet.
Wir befinden uns in einem Dorf. Die Menschen kennen sich. Daher kommt rasch die Frage auf, ob es nötig ist, die Behörden einzuschalten. Vielleicht nimmt sie sich nur eine Auszeit. So ist Charlie halt manchmal. Sie taucht schon wieder auf!
Dann gibt es eine Leiche.
Die Aufregung ist groß. Ist es Charlie? Nein. Die Entwarnung bringt Hoffnung und Trauer zugleich. Denn nun gibt einen toten Menschen und weiterhin eine spurlos verschwundene Charlotte. Die allerdings den Toten gut kannte. Ob es einen Zusammenhang gibt?
„Es besteht also die Möglichkeit, dass wir es hier mit einem Unfall zu tun haben.“
„Ja.“
„Oder mit Mord.“
„Oder Totschlag. Ja.“ (S.92)
Cut. Ein Sprung in das Jahr 2022.
Die Kinder sind erwachsen geworden. In die Welt gezogen und haben die Geschehnisse ihrer Jugend komplett unterschiedlich verarbeitet. Nun kommen sie in ihrem Elternhaus zusammen. Der Vater ist dement. Die Mutter weiter verschollen.
Es passiert das, was passieren muss: Die Emotionen kochen hoch. Gefühle eskalieren. Vorwürfe stehen im Raum und mittendrin ein dringender Verdacht, wer ihre Mutter ermordet hat. Denn davon gehen sie inzwischen aus.
Es ist vor allem Etty, die uns ihre Gefühlswelt offenbart. Ihre Brüder kommen seltener zu Wort. Wirken abgeklärter. Aber auch in ihnen brodelt es. Ihre Form der Verarbeitung ist ein Podcast. Dafür recherchieren sie. Fragen nach. Stochern in den verstaubten Erinnerungen herum.
Und wie der böse Zufall es will, geschieht erneut ein tödliches Unglück.
Die Ermittlungen beginnen – mit einer neuen Ermittlerin namens Detective Maud O’Connor. Sie wird mit dem Fall beauftragt. Sie ist jung. Eine Zielscheibe für Sprüche. Aber sie ist standhaft und somit könnte nach 22 Jahren endlich der Vermisstenfall Charlie geklärt werden.
„Diese Ermittlungen wurden komplett verbockt. Ich brauche eine Person mit gesundem Menschenverstand, die das alles mal durchforstet.“ (S.328)
Maud bekommt im dritten Teil des Buches ihren eigenen Redeanteil. Damit haben wir drei Buchabschnitte, die alle ein komplett unterschiedliches Tempo anschlagen.
Der erste Part war für mich der interessanteste. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Menschen suchen, fragen, ermitteln (eher schlecht als recht) und wuseln bunt durch das Geschehen. Es ist Bewegung drin, es liest sich flott weg.
Dann kommt ein Einbruch. Ich hatte das Gefühl auf der Stelle zu treten. Machen die Ermittlungen auch. Muss ich deshalb meinen Lesefluss einbüßen?
Der zweite Abschnitt ließ meine Hoffnung aufkeimen, dass jetzt etwas Schwung in die Bude kommt. Schließlich ist Zeit vergangen. Die Menschen im Buch haben sich entwickelt. Zum Guten und Schlechten.
Wie war das, die Hoffnung stirbt zuletzt?
War es anfangs interessant den Ereignissen zu folgen, trat bald das Im-Kreis-drehen-Spiel auf der Matte. Lediglich die Hoffnung endlich zu erfahren, was denn mit Charlie passiert ist, lies mich nicht abbrechen.
Die Detective schafft es im letzten Teil dann mich aus der Reserve zu locken. Sie bringt wortwörtlich frischen Wind rein. Die Steine kommen ins Rollen und wir kommen der Wahrheit näher. Hat lange genug gedauert.
Schlussgedanken.
Der Roman „Blutsbande“ ist nicht mein erstes Buch vom Duo Nicci French. Ich lese ihre Bücher recht gerne. Kriminalgeschichten zum mitfiebern und Menschen, die menschlich wirken. Hier haben sie mich nicht abholen können. Es lag nicht am Schreibstil, sondern an der Story und dem Aufbau. Das um den heißen Brei herum Getanze hat dem Lesefluss eher geschadet, als ihn zu beschleunigen.
Es war einfach zu lang und zu viel nebenbei, für den Plot. Zu viele Figuren, die eher (unnötiges) Füllmaterial waren und unwesentlich zu Handlung beitrugen. Daher ist es tatsächlich das erste Mal, dass ich kein Werk von Nicci French empfehlen kann.
Fun fact: Charlie kommt nicht einmal zu Wort. Dennoch war sie mir am sympathischsten.

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VÖ: 05/25 bei Penguin
Seiten: 480
■ England
■ Krimi/Thriller
■ Einzelband
■ Buchtipp von Nicci French: Die Reihe um Frieda Klein oder der Einzelband „Ein dunkler Abgrund„
