|Thriller| “Kind 44”

“Es gibt keine Kriminalität.” [S.37]

Es ist der Leitsatz, der das komplette Buch ausmacht. Unter Stalins Herrschaft gibt es keine Morde. Es gibt vielleicht Unfälle aber auf keinen Fall Kriminalität. Damit das auch so in den Köpfen der Bewohner verankert wird, gibt es das MGB – die Staatssicherheit. Sie kontrolliert, spioniert und hat dafür zu sorgen, dass auch ja keiner aus der Reihe tanzt. Wenn doch, hatte er damit zu rechnen nach brutalen Verhören in Arbeitslager oder ähnliches verschleppt zu werden, sofern er die Folter überlebte.

Leo ist ein MGB Offizier. Er dient seinem Land und kann sich entsprechend einen Wohlstand leisten, den kaum einer hat, der nicht für den Staat arbeitet. Er hat eine hübsche Frau und eigene vier Wände. Ein Luxus.
Doch dann beginnt das stabile Gerüst zu wanken. Immer mehr Steine werden gelockert und die Fassade beginnt zu bröckeln. Ist er doch nicht der knallharte Offizier? Verheimlicht er etwas? Hegt er falsche Gedanken? Plötzlich wenden sich seine eigenen Kollegen gegen ihn und er muss sich entscheiden: Familie? Frau? Luxus? Verrat? Verbannung?

Doch was ist passiert? Das Buch fängt recht ruhig im Jahre 1933 in der Sowjetunion an. Gute zwanzig Jahre vor den eigentlichen Ereignissen. Damals herrscht ein bitterer Winter. Eine Hungersnot bricht aus, die die Menschen sogar zum Kannibalismus zwingt. Diese Grausamkeit ist geschichtlich auch unter dem Namen “Holodomor” bekannt. In dieser Zeit wachsen die beiden Jungen Pavel und Andrej auf. Sie sind gerade auf der Jagd nach ihrem Abendessen – einer ausgemergelten Katze – als plötzlich Pavel verschwindet. Verzweifelt ruft sein jüngere Bruder nach ihm. Vergebens. Auch zu Hause ist er nicht angekommen. Pavel ist vermutlich das Opfer einer verhungerten Familie geworden und im Eintopf gelandet.

Nach einem Cut befinden wir uns dann im Jahre 1955 in Moskau. Es ist eisig kalt. Ein Mann namens Leo ist mit einer Observierung beschäftigt. Diese läuft allerdings nicht so wie geplant. Ihr “Staatsfeind” konnte sich absetzen und ist geflüchtet. Das sollte einem Geheimoffizier eigentlich nicht passieren. Für Ärger und Hohn ist gesorgt. Dabei bleibt es jedoch nicht. Zwar bekommt er eine Chance seinen Patzer auszumerzen, doch man hat schon angefangen gegen ihn zu arbeiten. Stück für Stück werden die Stuhlbeine abgesägt.

“Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.”
“Kontrolliere die, denen du vertraust.” [S.55]

Zunächst merkt Leo nichts davon. Erst als er nach einer schweren Erkältung wieder arbeiten geht, spürt er die Veränderung. Er wird dazu gezwungen seine Frau auszuspionen. Sie ist eine Staatsfeindin, was er nicht glauben will und so übernimmt er den Job, um ihre Unschuld zu unterstreichen. Zunächst ist er sich nicht sicher, ob dies nicht nur ein gemeiner Schachzug seiner Kollegen ist, um ihn von seinem Posten zu stoßen. Die Zweifel kommen jedoch mit der Zeit angekrochen und nun ist er sich nicht mehr sicher, wem er trauen soll. Außerdem wird er vor die Wahl gestellt: Seine Frau auszuliefern und seine Familie, sprich seine Eltern und seinen Stand somit retten oder eben nicht. Womit seine Chancen steigen degradiert zu werden. Was nicht immer nur den Jobverlust, sondern auch den Tod bedeuten kann und wer sollte schon herausfinden, dass das kaltblütiger Mord war? Schließlich gibt es keine Kriminalität.

Wo ist nun der Bogen zu den Kindern? Ganz einfach. Parallel zu der Observierung wird einer Kinderleiche neben Bahngleisen gefunden. Auf den ersten Blick schaut es nach einem fiesem Unfall aus. Doch der Vater des Kindes hegt Zweifel daran. Ebenso berichtet der Finder von Details, die einfach nicht zu einem Mord passen. Wie wir jedoch schon wissen: Es gibt keinen Mord. Also darf man offiziell nicht daran arbeiten und auch keine Zweifel an diesem Manifest hegen. Leo wird hier mit hineingezogen. Bleibt aber bei seinem Standpunkt, dass es ein Unfall war. Soll die Familie etwas anderes denken. Der Staat sagt etwas anderes.

Einige Zeit später stolpert Leo wieder über eine Kinderleiche. Wieder in der Nähe der Bahngleisen. Wieder ist der Bauchraum zerstört. Schaut aus, wie ausgenommen und auch weitere Dinge stimmen überein. So fängt der ehemals steinharte Leo an, weich zu werden. Er überlegt, recherchiert und gerät sehr schnell an seine Grenzen. Schließlich bleibt so etwas in einem Überwachungsstaat, wo jeder auf seinen eigenen Profit bedacht ist, nicht unbemerkt.

Wie man merkt, ist die Geschichte sehr komplex. Jedes Steinchen, was hier gesetzt wird, dient allerdings dem sicheren Grundgerüst, dass sich die Story nach und nach aufbaut. Man spürt die Angst der Menschen. Man bibbert mit ihnen in der Kälte mit. Man fühlt ihre Verzweiflung. Gleichzeitig brodelt die Wut in einem. Vor allem, wenn man sich bewusst wird, dass es das MGB (später KGB) wirklich gab. Dass die Menschen – ähnlich wie in der DDR – überwacht wurden und Staatskritiker sowie Feinde gnadenlos ausradiert wurden.

Das sorgt für eine dauerhafte unterschwellige Spannung in dem Buch, die sich bis zum Ende zieht. Schließlich will man wissen, was mit den Kindern passiert ist und welcher Zusammenhang zu dem Kannibalismus besteht. Entsprechend fühlte ich mich sehr gut unterhalten. Zeitweise hatte ich etwas mit der Komplexität zu kämpfen – gerade zu Beginn, wenn man noch nicht alle Namen kennt und die feinen Verbindungen erst einmal gedanklich aufbauen muss. Das legt sich aber rasch, je tiefer man in die Handlung eintaucht. Verabscheute man zu Anfang noch Leo, schließt man ihn irgendwann in sein Herz und bangt mit ihm mit.

Alles in allem kann ich dieses Buch jedem Thriller-Leser empfehlen, der es komplex und verworren mag, der ein überraschendes Ende bevorzugt und nichts gegen die Einflechtung wahrer grausamer Begebenheiten hat. Ja, ich hatte gegen Ende einen “Oh, Ha!” Moment, denn es kommt eine Wendung die so nicht vorhersehbar war und wenn ich dann höre, dass dies im Film abgeändert wurde, ist das natürlich sehr schlecht …Daher rate ich erst recht zum Buch! Der Nachfolger liegt hier schon bei mir im Regal und wird sicher bald ebenfalls von mir verschlungen werden.

sketch-kind-44


Genre: Thriller / VÖ: Januar 2010 / Verlag: Goldmann* / Serie: Band 1 von 3 / Region: Russland

11 Kommentare

  1. Alexander Diers
    6. August 2015
    Antworten

    Huhu :-)

    Ich fand das Buch auch richtig gut!
    Auch wenn es ziemlich grausam war und die Stimmung eher bedrückend, so ist es mir doch positiv und sehr einschlägig in Erinnerung geblieben :D

    ich freue mich schon auf "Kolyma" und "Agent 6", wobei ich bishe rnur letzteres stehen habe :-(

    Liebe Grüße von einem neuen Leser und bis spätestens im September zur LR ;)
    Alex

    • TheReal Kaisu
      6. August 2015
      Antworten

      Wenn Kolyme ebenfalls so gut rüberkommt, zieht der letzte Teil definitv auch noch bei mir ein!
      Ist mal was anderes als die klassischen Thriller in Großstädten :3

  2. WortGestalt
    7. August 2015
    Antworten

    Jip, ist gebongt, das Buch muss gelesen werden. Ein Ende, das ist nicht vorhersehbar ist und eine komplexe Story plus auch noch ein bisschen Input für die grauen Zellen, das sind gute Aussichte, danke fürs Berichten, hatte das Buch viel zu leichtfertig von der Liste gestrichen. :D

    • TheReal Kaisu
      8. August 2015
      Antworten

      Ich hätte es auch fast von der Liste gestrichen, aber dann kam der Film und ich wurde doch neugierig – zum Glück :D

    • WortGestalt
      8. August 2015
      Antworten

      Ah, die Torschlusspanik, schnell noch das Buch vorm Film zu lesen? ;) Aber schaust Du dir den Film noch an?

    • TheReal Kaisu
      9. August 2015
      Antworten

      Nein, bin ja eigtl kein Buchverfilmungs-Gucker. Der Trailer hatte mich aber daran erinnert, dass ich noch ein Buch dazu habe :D
      Und der besagte Film hat leider recht negative Kritiken bekommen, von daher werde ich ihn wohl nicht schauen …

    • WortGestalt
      9. August 2015
      Antworten

      Ich bin meist immer sehr neugierig auf die Verfilmung, aber wenn das Buch großartig war, kann der Film selten die gleiche Begeisterung auslösen. Außer, und das kann ich gar nicht oft genug sagen, bei "Drive", da sind Film und Buch gleichermaßen fantastisch! :D

    • TheReal Kaisu
      9. August 2015
      Antworten

      Ach verdammt, ja, DAS Buch wollt ich mir ja auch mal holen – bin vergesslich geworden – werde alt XD

  3. Ohwei, ich muss gestehen ich hab den Film gesehen und wusste gar nicht das es eine Buchverfilmung ist – erst als mein Arzt mir dieses zum lesen empfiehl (Ja, mein Hausarzt kennt mich halt *lach – komme immer mit Buch ins Untersuchungszimmer)

    Und eigentlich lese ich dann auch die Bücher nicht mehr … aber das andere, das richtige Ende würde mich ja sehr interessieren!

    • kaisu
      25. Februar 2017
      Antworten

      Also ich unterhalt mich mit manchen Gästen inzwischen auch über Bücher und man fragt mich nach Tipps XD

      Du kannst davon ausgehen, dass das Buch 10x komplexer ist als der Film. Das hätte man gar nicht alles reinpacken können und nachdem was ich gehört habe, ist dem auch so. Wenn du die Muse hast, nimm es ruhig zur Hand :)

      btw gut, dass du hier kommentiert hast, direkt ma die Formatierung geändert :P

      • 25. Februar 2017

        Ich habs schon länger auf meiner WuLI, aber das Buch muss noch warten da der Film noch zu gut in Erinnerung ist!

        Bin jetzt aber verwirrt, ich habe dich zum formatieren gebracht? what? why? :D

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

#Japanuary 2022
#BuchreihenChallenge
#ABC-Challenge