München 1975.
Mir fällt gerade auf, dass ich in letzter Zeit ganz oft Comic oder Buchkritiken mit Orten und Jahreszahlen beginne. Dabei ist das nicht einmal Absicht. Irgendwann bevorzuge ich dann wieder Zitate oder Zusammenhänge zu aktuellen Ereignissen. Also nicht daran gewöhnen, ich bin da recht flexibel mit meinen Einleitungen. Aber kommen wir zum eigentlichen Thema hier: Vatermilch!
Muttermilch kann ja jeder, es wird Zeit für die Vatermilch! Wieso sollten Eigenschaften vom Vater nicht auch auf das Kind übertragen werden können? Dazu braucht es eben die Milch vom Vater. Blöd nur, wenn der in der jüngsten Kindheit einfach abhaut. Mutter und Kind allein zurück lässt. Von jetzt auf gleich. Natürlich ist man frustriert und erleichtert zugleich, da Rufus (der Vater) deutlich über seine Verhältnisse gelebt hat. Was die beiden nicht wissen, er war in der Nacht seiner Flucht in einen tödlichen Unfall verwickelt.
Dreißig Jahre später sieht sein Sohn Victor ihn wieder. In einem Sarg. Fertig hergerichtet für die Beerdigung. Was empfindet man in so einem Moment? Zuneigung? Hass? Ist man emotionslos? Für Victor ist der Mann in dem Sarg nicht sein Vater. Wieso auch? Er war schließlich nicht da. Allerdings kommt die berechtigte Frage auf: Wie viel ist von der Art meines Vaters in mich übergegangen? Hat Rufus seinen Sohn seine schlechten Eigenschaften mit der Vatermilch übertragen? Das Trinken, die Drogen, die Unzuverlässigkeit?
Die Frage ist durchaus berechtigt. Zumal der Comic so aufgebaut ist, dass man die Gegenwart und die Vergangenheit sieht. Da ist der 36jährige Victor, der plötzlich mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Er hat inzwischen eine eigene Familie gegründet (Vater-Mutter-Kind) und ist Künstler. Der Haussegen hängt nicht sonderlich gerade, aber man kommt über die Runden. Ob das auf Dauer gut gehen kann? Parallel dazu das Leben von Rufus in den 70ern. Der es gerne locker und flockig hatte. Bissl problematisch, wenn man eine Familie versorgen muss…
Eckdaten (Anzeige)
128 Seiten (dt.)
Mai 2019 veröffentlicht bei Carlsen Comic*
Einzelband, Hardcover
in Farbe
von Uli Oesterle*
Die Ereignisse sind farblich unterschiedlich gekennzeichnet. So schwelgt Rufus eher im dunklen Grau, durchzogen von einem leuchtenden Orangeton, der seine ganz eigene Bedeutung hat. (Roter Faden einmal anders.) Victor ist eher in einem dunklen Lila unterwegs und bekommt Gesellschaft von einem auffallenden Grünton. Wenn man den Comic liest, fällt einem sofort auf, dass die beiden sich verdammt ähnlich sind. Victor stellt sich auch selbst immer wieder diese Frage, was mit der Vatermilch auf ihn übergeschwappt ist. Besonders die negativen Eigenschaften machen ihm zu schaffen.
Ganz ehrlich? Wenn ich NICHT wie mein Vater werden möchte, dann ändere ich das und versinke nicht im Selbstmitleid. Mit Mitte Dreißig sollte man in der Lage sein, da zu unterscheiden und nicht alles seinem nicht-vorhandenem-Vater alles in die Schuhe zu schieben. Diese Schuldzuweisungen haben mich zeitweise echt aufgeregt. Das Geheule auf sich selbst, hat mich eigentlich am meisten gestört an dem Comic. Es versaut so ein wenig das Leseflair. Wie ein Kommissar, der immer nur am nörgeln ist und alles doof findet … Blättert man bis zum Schluss, erfährt man, dass der Comic ein wenig autobiografisch ist, da Oesterle ähnliche Erfahrungen machen musste.
Trotz meiner Kritikpunkte würde ich auf jeden Fall noch einen Blick in den zweiten Band werfen. Einfach um zu sehen, wie sich Victor entwickelt und ob er aus seinem Loch herauskommt. Wünschenswert wäre es. Der Zeichenstil ist auch angenehm und die unterschiedlichen Farben fand ich recht nett gemacht, so kann man sich nicht in der Story verlaufen. Einfach dem Hasen – ach, nein, der kam woanders vor – einfach den Farben folgen.
“Vatermilch” ist ein Comic, über zwei Männer, deren Wege sich trotz dreißig Jahre Unterschied kräftig kreuzen und die Frage in den Raum stellen, ob man automatisch so wird, wie seine Eltern.
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